Venedigersagen (Erläuterungen)

Die Höfats von Nordosten
Die Höfats von Nordosten
Rolf Böck

Eine ganze Reihe unserer Allgäuer Sagen beschäftigen sich mit den „Venedigermännle“. Woher kamen sie? Was machten sie hier? Wie sahen sie aus?

Besonders zur letzten Frage finden wir leider nicht viel Antworten in unseren Sagen. Dass es eine „sonderbare Tracht“ tragen solle, können wir in der Safe "Venedigermännle holt Schlamm aus dem Christlessee" nachlesen. In der Sage vom Vendigerspiegel werden wir hören, dass es recht klein sein müsse. Eine Sage aus Ehrenbichl in Tirol gibt hierüber noch genauer Auskunft:  Es waren „... kleinwinzige Männle, die kaum tischhoch waren und auf dem Kopfe einen großen Hut hatten, unter dem große Ohren sichtbar waren. Sie steckten in einem langen, talarähnlichen Rocke, der ihnen bis zu den Knöcheln hinabreichte,..“ In einem Artikel der Zeitschrift „Schönes Allgäu“ meint der mir unbekannte Verfasser: „Die Kleidung der seltsamen Fremden, der lange Rock mit Kapuze, erinnert sehr an den Lodenumhang, der den erfahrenen Berggänger verrät.“ Woher er seine Informationen erhalten hat, bleibt mir unbekannt. Auf jeden Fall werden die Venedigermännle im Buch „Allgäuer Sagen“ immer so dargestellt. Im Laufe der Abhandlung werden wir noch mehr über diese Männer erfahren und feststellen, dass es sich jedoch um ganz normale Menschen handeln musste, die sich höchstens wegen ihrer fremdländischen Tracht und ihrer Sprache von unseren Vorfahren unterschieden.

Wenden wir uns der ersten Frage zu. Schon der Name deutet darauf hin, dass es sich um Männer aus Venedig handeln muss. Wir werden im Folgenden sehen, dass diese Vermutung auch teilweise stimmt, jedoch nicht immer zutrifft. In anderen Sagen aus dem Alpenraum, aus dem Harz und aus Thüringen werden die Venedigermännle auch Welsche oder Walen genannt. Beide Begriffe wurden früher für romanisch sprechende Menschen verwendet. Wahrscheinlich engt der Begriff „Venedigermännle“ zu stark ein und unsere Venediger waren Menschen aus dem heutigen Italien, der italienisch sprechenden Schweiz, aus Frankreich und auch aus Rumänien. Da in der Zeit des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit Fernreisen nicht unbedingt zum Alltäglichen gehörten, waren fremdländische Menschen besonders bei uns im abgelegenen Allgäu schon etwas ganz Besonderes und ebenso Unheimliches.

Auch die zweite Frage ist leicht zu beantworten: Der Venediger holte sich z. B. Schlamm aus dem Christlesee. Der enthielt etwas Wertvolles, das ihm zum Leben für ein ganzes Jahr reichte. Das war natürlich eine Sensation und wer von unseren alten Oberstdorfern hätte nicht gerne erfahren, was das sein könnte. Unsere Venediger aber hielten dicht, egal ob sie am Hochvogel hämmerten und klopften, oder kostbare Erze an der Mädelegabel schürften, wie in der Sage „Fahrender Schüler holt Erze von der Mädelegabel“

Hier wird die Sage schon deutlicher. Es sind wertvolle Erze, die an der Mädelegabel gesammelt wurden. Natürlich herrschte schon bald die Meinung vor, dass es nur Gold oder Edelsteine sein konnten. Was sonst ist so wertvoll, dass ein Rucksack mit etwa 20 kg Gestein zum Leben für ein ganzes Jahr reichen würde. Es verwundert ein wenig, dass in dieser Sage von einem fahrenden Scholaren, einem studierendem Menschen, die Rede war. Dies lässt die Vermutung aufkommen, dass es auch deutsch sprechende Menschen sein konnten, die damals auf der Suche nach den Schätzen der Erde waren. Es muss hier auch erwähnt werden, dass der Themenkreis „Fahrende Scholaren“ eigentlich viel weitschichtiger und tiefergehend ist, hier jedoch nur unter dem Aspekt der Erzsucher abgehandelt und als Synonym für die Venediger steht. Wollen wir uns jetzt der Frage nach den Schätzen genauer widmen.

Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass in unseren Bergen abbauwürdige Goldvorkommen zu finden seien. Diese Hypothese wird durch einen Briefwechsel des Bischofs Heinrich von Augsburg mit dem Rettenberger Landammann Alexander Straub aus den Jahren 1629 bis 1636 gestützt. Dem Landammann wurde befohlen, italienische Goldsucher zu suchen und zu verhaften, um herauszufinden, in welchen Bächen und Flüssen sich der Goldsand befände. Der Bischof von Augsburg war sichtlich besorgt, dass die Goldwäscher an seiner Steuerschatulle vorbei Gold ins Ausland brächten. Aber schon die Untersuchungen des Landammannes und auch die späterer Jahrhunderte fanden in unserer Gegend keine nennenswerten Goldvorkommen. In der Iller kann man zwar Gold waschen, der Arbeitseinsatz lohnte jedoch nicht. Doch sind die Ängste des Bischofs nicht unbegründet, denn wir wissen heute zuverlässig, dass im 16. Jahrhundert Zigeuner aus den rumänischen Ostkarpaten und den siebenbürgischen Westkarpaten das Goldwaschen aus Bachsanden beherrschten. Diese romanisch sprechenden Zigeuner wanderten Mitte des 16. Jahrhunderts bei uns ein und begannen heimlich in einsamen Gegenden, Gold zu seifen, wie es in der Fachsprache heißt. Doch schon bald erfuhren die Landesherren von ihrem Tun und verboten dies durch hohe Strafen. Da Zigeuner zu diesem Zeitpunkt noch recht unbekannt waren, wurden sie auf Grund ihrer Sprache sicherlich mit Italienern verwechselt. So endete diese Episode kurz und schmerzlos. Die Zigeuner hörten das Goldseifen einerseits aus Angst vor Strafe und andererseits wegen Erfolglosigkeit nach wenigen Jahren auf. Dieses Ereignis konnte demgemäß auch kaum die Gemüter der Menschen so nachhaltig beschäftigen, dass sich die Sagen bis in unsere Zeit hielten.

Wenden wir uns wieder dem Begriff „Venedigermännle“ zu. Er führt uns direkt in die Welthandelsstadt Venedig des Mittelalters. Bekannt war sie unter anderem wegen ihrer Glasmanufakturen auf der Insel Murano. Dort wurden zur Färbung der Gläser die verschiedensten Mineralien verwendet. Zum Blaufärben des Glases wurde Kobalt benötigt. Aus verschiedensten Quellen kann geschlossen werden, dass dieser „Blaustein“  vom frühen Mittelalter an bis ins 15. Jahrhundert aus Deutschland bezogen wurde. Gefunden wurde es beim Silberbergbau, wo es eher störte - daher der Schimpfname „Kobalt“ - und durch Mineraliensucher, welche die deutschen Gebirge durchsuchten. Da jedoch das „Geheimnis“ des Blaufärbens in ganz Italien und auch in Frankreich bekannt war, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Mineraliensucher aus dem gesamten romanisch sprechenden Raum stammten.

Anders sieht es mit dem am strengsten gehüteten Geheimnis der Muranoer Glasbläser aus. Nur sie kannten über viele Jahrhunderte eine Technik, mit der das Glas „wasserklar“ gemacht werden konnte. Hierzu wurde ein Mineral gebraucht, das heute unter dem Namen Mangan bekannt ist. In Deutschland war das Mineral lange gänzlich unbekannt. Erst im 16. Jahrhundert sickerte langsam durch, dass bei uns ein unbekannter Stoff ausgegraben wurde, der nach Venedig verfrachtet wurde und Glas weiß mache. Da von diesem „Braunstein“ nur kleine Mengen benötigt wurden, waren auch sicher nicht sehr viele Venediger unterwegs, die unauffällig die Täler absuchten, hie und da etwas fanden und das Gefundene danach genauer untersuchten. Natürlich kamen sie zu dem mühsam erkundeten Fundort auch jährlich zurück. Diese Besuche können theoretisch noch bis ins 19. Jahrhundert angedauert haben, da es erst im letzten Jahrhundert gelang, manganhaltige Mineralien im Bergbau zu gewinnen. Belege hierfür sind laut Dr. Helmut Wilsdorf wenigstens aus dem 17. und 18. Jahrhundert vorhanden.

Im 15. Jahrhundert waren für wenige Jahre in unserer Region auch Alaunsucher unterwegs. Sie wurden von der päpstlichen Kassenverwaltung ausgeschickt, da die bisherigen Alaunvorkommen in Phokia 1453 von den Türken erobert worden waren. Natürlich wurde der Handel mit den Feinden der Christenheit verboten und die Alaungewinnung zum päpstlichen Monopol erklärt. Schon nach sehr kurzer Zeit, nämlich im Jahre 1559, wurde das riesige Alaunvorkommen von Tolfa im Kirchenstaat entdeckt und im bis dahin größten Bergwerksunternehmen der Christenheit von nicht weniger als 6000 Bergleuten gefördert.

Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen: Über mehrere Jahrhunderte hinweg kamen Erzsucher auf ihren Wanderungen durch das Allgäu. Bis auf wenige Ausnahmen, den fahrenden Scholaren, waren es romanisch sprechende Männer. Sie verhielten sich einerseits sehr geheimnisvoll, da sie ja das Ziel ihrer Suche nicht verraten durften, waren aber auf der anderen Seite als Fremde im Ausland sehr freundlich zu den Einheimischen. Von diesem überaus guten Einvernehmen erzählt auch die Sage „Venedigermännlein reitet einen Drachen“, in der das Wissen und Können der „Venediger“ bzw. der „fahrenden Scholaren“ mystisch überhöht wurde.

Im 16. Jahrhundert dürfte jedoch der Höhepunkt der Wanderungen überschritten worden sein und nur noch ganz vereinzelt kamen Erz- oder Kristallsucher in unsere Heimat. Warum sich die Sagen trotzdem über dreihundert Jahre hielten, das lag wahrscheinlich an zwei anderen Gegebenheiten, die zu Beginn der Neuzeit Einfluss auf die Gedankenwelt unserer Vorfahren nahmen.

Landauf, landab versuchten sich Alchemisten im Goldmachen. Jeder Landesherr, der etwas auf sich hielt, hatte mindestens einen dieser „Wissenschaftler“ in seinen Diensten. Sicher nicht ohne Neid beobachteten diese, dass die Venediger schon lange alchemistische Verfahren nutzten, um Gläser zu färben und - konnten sie vielleicht nicht doch auch Gold herstellen? Waren die Venediger die besseren Alchemisten? In der Gedankenwelt der damaligen Menschen entstand geradewegs die Assoziation: Goldschatz - Venediger. In der Sagentradition wurde Venedig sogar zur Hohen Schule der Alchemie, in dessen Universität Vorlesungen über das Schatzheben abgehalten wurden. Dabei ist es direkt eine Ironie der Geschichte, dass Venedig gar keine Universität besaß. Aber das kümmerte die Sage wenig.

Eine weitere Tatsache mit rationaler Ursache führte zu einer Verstärkung der oben genannten Verbindung. Natürlich waren die Erzsucher als Wissenschaftler des Schreibens mächtig und führten sicher genaue Tagebücher über Fundorte und ähnliches. Hin und wieder ging so ein Büchlein verloren und wurde von einem Ansässigen gefunden. Aber die Einheimischen konnten damit überhaupt nichts anfangen, denn sie waren einerseits des Schreibens nicht mächtig und dazu waren die Bücher auch noch in Italienisch geschrieben. Um das Ganze noch geheimnisvoller zu machen, benutzen die Venediger oft eine Art Geheimschrift. Vielleicht hat auch der Trudeser von der Ebnat im Birgsau ein solches Venedigerbüchlein  gefunden. Hören wir ein wenig hinein in diese Sage:

„Der alte Trudeser sah einmal im Riedwald auf einem Tannenstock ein altes Büchlein liegen. Der Bauer, neugierig, was das wohl sein könne, begann im Weitergehen, darin zu blättern und zu lesen. Aber er verstand von dem, was er da las, kein Wort. Die Sprache war ihm fremd. Wie nun der Trudeser buchstabierend weitergeht, merkt er mit einem Mal, dass sich die Tannenwipfel neigen und dass die Bäume ächzen und rauschen wie im ärgsten Sturm, und dies alles, obwohl sich nicht das leiseste Lüftchen regt.“

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er einem der vielen Plagiate auf den Leim gegangen ist, die ab dem 16. Jahrhundert entstanden. Sie nutzten die Geld- und Neugier der Menschen aus und gaukelten dem Leser vor, er könne hiermit reich werden. Diese Zauberbüchlein waren ausnahmslos in Deutsch geschrieben, was aber keinen störte und sie wurden gegen teures Geld gehandelt und verstärkten in den Köpfen der Bevölkerung die Überhöhung der Venediger. Deshalb wurden diese nicht nur nicht vergessen, sondern sogar mit besonderen Eigenschaften ausgestattet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass diese Eigenschaften in den Sagen aber meist eher rational erklärbar und weniger mystisch weitererzählt werden. So nutzte der Venediger zur Vertreibung des Drachen zwar eine fremde Sprache, mit keinem Wort wird aber von teuflischem Handeln gesprochen. „Auffällig ist vor allem, dass mit offener Bewunderung diesen Fremden ein hohes Maß an Ausdauer und Geschick und dazu ein naturkundliches Wissen und ein technisches Können zugeschrieben worden ist, während die Sage sonst von geheimen und magischen Kräften fabelt, wenn Schätze gehoben werden“

Nur selten verirren sich deshalb Elemente aus anderen Sagentraditionen in die „Venedigersagen“. So enthält die Sage „Der Venedigerspiegel“, die meines Erachtens zu den schönsten unseres Heimatortes gehört, ein paar wichtige Motive, die eigentlich den Zwergensagen zuzuordnen sind. Lassen Sie sich beim Lesen der Sage in die geheimnisvolle Welt des Venedigerkönigs entführen.

Elemente aus Zwergensagen sind hier einerseits der König und andererseits der Lohn, der sich als Roßbollen entpuppt. Die uralten, vorchristlichen Zwergensagen sind jedoch in unserem Sagenschatz eher in den Sagen von den Wilden Männle. Ein besonders interessantes Motiv  in der letzten Sage ist der Zauberspiegel, der den Bogen schließt. Wer sonst konnte in früheren Zeiten ein Glas herstellen, mit dem man Dinge vergrößert anschauen konnte? Nur die Glasbläser aus Murano waren hierzu in der Lage und dazu benötigten sie Mangan aus unseren Allgäuer Alpen. Basierend auf „Realgegebenheiten“  entstanden diese Venedigersagen, die uns einiges über Wissenschaft und Technik im Mittelalter und auch über die mannigfaltigen Verknüpfungen in der Alpenregion erfahren lassen.

Oberstdorfer Sagen: Der Venedigerspiegel
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Brigitte Rößle
Oberstdorfer Sagen: Der Drudesar findet ein Zauberbuch
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