Die Familie Mordvinoff in Oberstdorf
Ein Gemälde aus dem Museum erzählt
Im Künstlergang des Heimatmuseums in Oberstdorf befindet sich das farbenfrohe Ölgemälde eines verschmitzt lächelnden Postillions. Die Signatur, ein durchgestrichenes O zwischen der aufgeteilten Jahreszahl - sie könnte 1933 heißen - weist auf die Malerin Olga von Mordvinoff hin. Sie lebte zwar viele Jahre zusammen mit ihrem Ehemann Anatol und der Tochter Maria in Oberstdorf, aber den interessanteren Teil ihres aufregenden Lebens verbrachte sie in Russland. Ohne etwas vorwegzunehmen, das Überleben der Familie Mordvinoff in einer hochdramatischen Zeit wäre es Wert, verfilmt zu werden.
Olga Karlovna Heath, wie sie mit Mädchennamen hieß, kam am 25. August 1877 in St. Petersburg zur Welt. Ihre Eltern waren Geheimrat Karl Heath und Wilhelmine Heath, geb. Ledsen. Später zog die Familie nach Gatchina südlich von St. Petersburg. An diesen Ort hatte sich die Familie des Zaren Alexander III. zurückgezogen, um sich vor häufig verübten Anschlägen zu schützen. Anschläge auf die Zarenfamilie waren damals an der Tagesordnung. Karl Heath unterrichtete die Kinder des Zaren in Englisch und Literatur. Unter seinen Eleven befand sich auch der künftige Zar Nicolaus II. und seine Schwester, die Großherzogin Olga Alexandrovna. Dort lernte Olga 1899 Anatoly Alexandrovich von Mordvinoff kennen und lieben. Sie heirateten noch im selben Jahr und bezogen ein Haus auf dem Palastgrund. Schon wenige Jahre später war Nachwuchs angesagt. Die glücklichen Eltern konnten am 15. Februar 1903 ihre Tochter Maria präsentieren.
Der Stammbaum der Mordvinoffs reicht zurück bis ins 16. Jahrhundert, als Zar Ivan der Schreckliche herrschte. Die Mordvinoffs besaßen große Ländereien in der Provinz Nowgorod südlich von St. Petersburg. Anatol wurde 1870 geboren, verlor jedoch früh seine Eltern und wuchs bei seiner Großmutter auf. Diese schickte ihn auf eine deutsche Privatschule und, wie es sich gehört, danach auf die Kadetten-Akademie. Anschließend diente er als Kürassier in der Leibgarde der Zarin Maria Feodorovna, der Ehefrau des Zaren Alexander III. Mitte der 90er-Jahre berief man ihn an die Generalstabs-Akademie. Anschließend wurde er wieder nach Gatchina, dieses Mal in die Schwadron des Zaren Alexander III., zurückversetzt.
1904 bot ihm Großfürst Mikhail Alexandrovich, der Bruder des Zaren, die Stelle des persönlichen Adjutanten an. Für acht Jahre stand er ihm nur zur Seite und begleitete ihn auf Reisen durch Europa. Im November 1912 löste der Großfürst jedoch einen Skandal aus, als er heimlich in Wien seine Geliebte Natalja Brassowa heiratete. Dies geschah gegen den ausdrücklichen Willen seines Bruders Nikolaus II. und diesem blieb aus Gründen der Staatsraison nichts anderes übrig, als seinem Bruder künftig die Rückkehr nach Russland zu verweigern. Damit war Anatol arbeitslos.
Doch Zar Nikolaus II ließ seinen loyalen und ehrenhaften Untertanen nicht fallen und bot ihm sogar im Jahr 1913 die Stelle des Flügeladjutanten an. Damit nahm er eine ganz besondere Vertrauensstellung unter den über 50 Adjutanten des Zaren ein. Bei seinen Diensten war er häufig in den Familienkreis des Zaren eingebunden und bekam so ein beinahe familiäres Verhältnis zu den Romanovs. Mit der Großherzogin Olga Alexandrovna, die nach der Revolution 1917 noch rechtzeitig nach Dänemark und Ende des 2. Weltkrieges weiter nach Kanada emigrierte, hielt er noch viele Jahre Kontakt. Einmal schenkten die Kinder Nikolaus II. Anatol, der ein Kettenraucher war, ein silbernes, mit einem Saphir verziertes Zigarettenetui. Dies wurde zu einem „running Gag“ bei der Zarentochter Anastasia. Jedes Mal, wenn Anatol Dienst hatte, musste er der Prinzessin sein Zigarettenetui zeigen, um zu beweisen, dass er es nicht verloren hatte. Dieses Geschenk sollte Jahre später eine interessante Rolle spielen.
Während des 1. Weltkrieges gehörte Antatol dem Generalstabshauptquartier an und begleitete seinen Dienstherrn auch zu seinen seltenen Besuchen an der Front. Als der Zar im Februar 1917 abdanken musste, war er mit ihm im kaiserlichen Zug. Bis November blieb er noch im Generalstabshauptquartier, quittierte seinen Dienst jedoch kurz bevor der Waffenstillstand im Dezember mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich unterzeichnet wurde. Nun zog er sich mit seiner Familie auf seine Güter bei Novgorod zurück.
Nach dem Sieg der Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917 änderte sich die Situation für den russischen Adel jedoch grundlegend. Die Zarenfamilie, die bisher zwar im Hausarrest lebte, aber sonst kaum Einschränkungen erlebte, wurde im Frühjahr 1918 in den Ural deportiert und am 17. Juli 1918 erschossen. Von nun an war die alte Aristokratie Russlands Freiwild. Es war nur eine Zeitfrage, bis die Familie Mordvinoff ins Visier der bolschewikischen Kommissare geriet. Im September 1918 wurde Anatol schließlich verhaftet und in die Trubezkoi-Bastion verbracht. Dieses berühmt-berüchtigte Gefängnis befand sich in der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg Dort wartete er auf seinen sicheren Tod. Aufgrund einer schweren Krankheit verlegte man ihn aber im November in das Gefängnis in Vyborg. In dem Durcheinander, das damals herrschte, wurde er mit einem einfachen Offizier verwechselt und konnte daraufhin aus der Haftanstalt fliehen. Ihres Lebens in Russland nicht mehr sicher, suchte die Familie nach einer Fluchtmöglichkeit. Im Winter 1919 ergab sich endlich eine Gelegenheit. Anatol bestach einen korrupten Kommissar, der die Familie über die Landesgrenze nach Finnland bringen sollte. An der Grenze wurden sie jedoch verraten und wieder interniert. Wieder einmal den sicheren Tod vor Augen wurden sie vor ein Militärtribunal gestellt. Wie durch ein Wunder sprach dieses sie aber frei und sie wurden entlassen. Wahrscheinlich konnten sie sich zwischenzeitlich mit falschen Papieren ausstatten und untertauchen. Im kommenden Jahr gelang ihnen schließlich mit Unterstützung einer Fluchthilfeorganisation die Emigration ins Exil nach Deutschland.
Dort kamen Anatol und Olga erst einmal bei der befreundeten Familie Skoropadskyj in Berlin unter. Anatol und Pawlo Skoropadskyj kannten sich aus der russischen Armee, wo die beiden während des 1. Weltkriegs im Generalstab dienten. Mit Hilfe der deutschen Besatzer war Pawlo Skoropadskyj 1918 sogar für ein halbes Jahr Staatsoberhaupt (Hetmann) der Ukraine. Tochter Maria wanderte nach England aus, wo sie bis 1925 lebte.
Im Jahr 1921 zog das Ehepaar Mortvinoff nach Braunlage im Harz und 1923 - in der Zwischenzeit mit einem sogenannten Nansen-Pass ausgestattet - nach Oberstdorf. Dort fanden sie schließlich ihre endgültige Zuflucht. Der holländische Adelige und Erbauer des Kinderheims „Hohes Licht“, Laman Trip de Beaufort, hatte ihnen großzügig das Haus Lorettostraße 40 1/23 (heute Hammerspitzweg 7) geschenkt. Das Haus erhielt den Namen „Hethaus“, was wahrscheinlich an Olgas Mädchenname erinnern sollte. Mit ihren neuen Nachbarinnen Hetty Laman Trip de Beaufort im Kinderheim „Hohes Licht“ und Gräfin Wilhelmine von Geldern Egmont im Geldernhaus knüpfte sie nun freundschaftliche Kontakte bis an ihr Lebensende.
Da Olga eine künstlerische Ausbildung genoss, hielt sie die Familie mit Auftragsarbeiten über Wasser. Bei den vielen reichen oder adeligen Familien, die damals in den „Roaring Twenties“ in Oberstdorf wohnten oder ihren Urlaub verbrachten, ging sie ein und aus und portraitierte besonders gerne deren Kinder. Außerdem besuchte sie aus demselben Grund viele russische Emigrantenfamilien in halb Europa. 1929 überquerte sie sogar den großen Teich und nutzte dabei die Überfahrt nach New York, um Konterfeis ihrer Mitpassagiere anzufertigen. Dies ist einem Tagebucheintrag der Tänzerin Yvonne Georgi zu entnehmen. In ihrem Nachlass befindet sich eine ganze Reihe von Fotografien, die von ihren Portraits angefertigt wurden. Auch von ihrem Freund Pawlo Skoropadskyj fertigte sie in diesen Jahren ein Portrait. Dieses blieb in Familienhand, bis die Enkeltochter es im Jahre 2004 dem Hetmanship Museum in Kiew übergab. Außerdem befindet sich im Jagdraum II unseres Museums noch eine Zeichnung, auf welcher der Förster Dr. H. C. Wolfgang Hohenadel abgebildet ist.
Olga engagierte sich auch aktiv am örtlichen kulturellen Leben und nahm an mehreren Ausstellungen teil. So 1939, als sie zusammen mit Wilhelm Berktold, Max und Vici Brüning, Robert und Eric Curry, Hermann Gabler, Eugen Ludwig Höß, Manfred Kauders, Hans König, Fritz Rosen und H. Schütt ihre Werke im Rathaus präsentierte. Mindestens einmal hatte sie auch eine Ausstellung im Ausland. Vom 17. Dezember 1932 bis zum 4. Januar 1932 wurden 61 ihrer Werke in der Galerie Jean Charpentier in Paris gezeigt. In ihrem Nachlass fallen zwei weiter Stilrichtungen auf. Einerseits sind es kolorierte Tuschezeichnungen in naiver Malerei mit russischen Motiven, die sie anscheinend kurz nach der Flucht anfertigte. Anderseits sind es originelle Bleistiftzeichnungen, die sie vorzugsweise auf die Rückseite alter Gästeanmeldekarten skizzierte. Sie stammen ausnahmslos aus ihren letzten Lebensjahren.
Bei meinen Recherchen über die Familie fiel mir auf, dass im deutsch- und englischsprachigen Raum bisher kein einziger Eintrag im Internet über die Künstlerin Olga Mordvinoff existiert, obwohl sie anscheinend sehr produktiv war und sich ihre Werke aufgrund ihrer hervorragender künstlerischer Gestaltung auszeichneten. Ich nehme an, dass ihre Portraits, bedingt durch ihren persönlichen Charakter, kaum in den Handel kamen,da die betroffenen, meist wohlhabenden Familien aus finanziellen Gründen nicht dazu gezwungen waren.
Mit dem Hethaus, das schon mit Zentralheizung und fließend kaltem und warmem Wasser ausgestattet war, hatte die Familie noch eine zweite Einnahmequelle. Sie vermietete Gästezimmer an Kurgäste. Sicher kann über die sieben im Nachlass verbliebenen, oben erwähnten, Anmeldekarten aus den 30er-Jahren keine Statistik angefertigt werden. Tendenziell fällt jedoch auf, dass sich darunter drei Adelige und vier Ausländer befanden. Das ist sicher nicht der Querschnitt der Oberstdorfer Gäste. Außerdem besserte Tochter Maria, sie stieß 1925 wieder zu ihren Eltern, mit Schneiderarbeiten die Familienkasse auf. Später arbeitete sie als Erzieherin in einem der vielen Kindeheime unseres Ortes.
Vom Hausherren Anatol wäre überhaupt nichts mehr zu erfahren gewesen, wenn da nicht eine gewisse Anna Anderson aufgetaucht wäre. Seit 1922 behauptete diese hartnäckig, Großfürstin Anastasia und somit die vierte und jüngste Tochter von Zar Nikolaus II. und Zarin Alexandra Fjodorowna zu sein. Wahrscheinlich hatte sie es auf das ausländische Vermögen der Zarenfamilie abgesehen. Bei ihrem dreisten Unterfangen bekam sie schnell Unterstützung von einflussreichen Familien und Rechtsanwälten. Der Rechtsstreit zog sich beinahe über 50 Jahre hin und ihre Klage wurde schlussendlich erst 1970 vom Bundesgerichtshof abgewiesen. Wissenschaftlich wurde der Beweis erst 1991 möglich, als die sterblichen Überreste der Zarenfamilie gefunden wurden und ein DNA-Vergleich bewies, dass sich die gesamte Familie im Grab befand. Natürlich wurde von Anfang an versucht, Anna Andersons Behauptung zu verifizieren bzw. zu widerlegen. Hierzu lud man 1927 Anatol ein, um mit ihr zu sprechen. Das Treffen kam zustande. Anatol, der Anna Anderson - sie machte eine Kur in Oberstdorf - schon einmal auf dem hiesigen Bahnhof gesehen hatte, stellte sofort fest, dass gar keine Ähnlichkeit zwischen Anastasia und Anne Anderson bestand. Außerdem zeigte Anna Anderson überhaupt kein Zeichen des Wiedererkennens. Als Probe auf’s Exempel zückte Anatol schließlich sein silbernes Zigarettenetui, doch er provozierte damit keinerlei Reaktion. Für ihn stand fest, dass Anne Anderson eine Betrügerin war. Bis auf diese Ausnahme führte er als unauffälliger Privatier ein zurückgezogenes Leben in Oberstdorf. Am 19.01.1940 schied er aus dem Leben und wurde auf dem Waldfriedhof in Oberstdorf begraben.
Im Jahre 1944 zog ein Teil der ausgebombte Familie Skoropadskyj zu ihren Freunden nach Oberstdorf ins Hethaus. So konnten sich die Mordvinoffs für ihre Hilfe in den 20er-Jahren bedanken.
Seit 1937 war Tochter Maria im Kleinen Walsertal ansässig und führte dort den Alpenhof Wildental als Kinder- und Soldatenerholungsheim. 1950 nahm sie das Kinderheim Sonnenblick (heute Hirschegg, Wäldelestraße 30) in Betrieb, das sie von einer Familie Math gepachtet hatte. Doch schon 1951 wurde ihr wieder gekündigt. Eine Familie Tauser hatte das Haus gekauft und wollte einen Neubau errichten. In der Nacht zum Montag, dem 11. Februar 1952, befand sich die Familie zusammen mit ihrer kleinen Tochter unter den 20 tragischen Opfern der Lawinenkatastrophe in der Melköde. Das Kinderheim fiel zurück an die alten Besitzer Math. So konnte schließlich Maria doch weitermachen.
Mutter Olga lebte weiterhin zusammen mit ihrer Freundin Margarete von Busch, auch ein gebürtige Russin aus St. Petersburg mit Nansenpass, im Hethaus. Diese wurde von ihr in einem Brief liebevoll „Häschen“ genannte und schon 1952 vermachte Olga ihr ein Drittel des Hethauses, um sie für’s Alter abzusichern. Ein weiteres Drittel erhielt ihre Tochter. Nach einem Krankenhausaufenthalt verstarb Olga am 17. Dezember 1953 und wurde an der Seite ihres Ehemannes beigesetzt.
Jetzt war aus der Familie nur noch Maria am Leben. Da Margarete von Busch 1955 aus dem Hethaus auszog, vermute ich, dass es auch in diesem Jahr verkauft wurde und Maria mit dem Erlös 1956 den Bau ihres Kindersanatoriums finanzierte. Für viele Jahre widmete sie nun ihr Leben weiter den Kindern. Nach längerem Leiden verstarb sie am 18.Juli 1971. Auch sie wurde im Oberstdorfer Familiengrab beigesetzt. Leider wurde das Grab 1986 aufgelassen und anschließend neu belegt.
So endete eine Familiengeschichte, die mit viel Dramatik begann. Nach einem Leben auf oberstem Niveau, in den höchsten Schichten der Aristokratie, folgte ein Absturz ins absolute Chaos. Vielleicht bildeten die ruhigen Jahre in Oberstdorf für die Familie Mordvinoff einen versöhnlichen Ausklang ihres Lebens. Für mich persönlich war es ein spannendes Unterfangen, diese abenteuerliche Geschichte zusammenzustellen, um sie der Nachwelt zu bewahren. Im Museum werden das Ölgemälde vom Postillion und die Zeichnung von Dr. H.c. Hohenadel die Erinnerung an diese Familie weiter wach halten.