Geisterprozessionen (Erläuterungen)

Die Säge an der Mühlenbrücke
Die Säge an der Mühlenbrücke
Archiv Heimatmuseum Oberstdorf

Eine Vielzahl unserer Sagen beschäftigen sich mit den Begegnungen unserer Vorfahren mit den Jenseitigen. Dabei trafen unsere Ahnen oft auf ganze Geisterprozessionen. Ursprünglich gab es hiervon wohl zwei total gegensätzliche Arten: Auf der einen Seite stand die "Gute Gesellschaft", die dem Menschen gegenüber grundsätzlich positiv gesinnt war, und auf der Gegenseite die "Wilde Jagd", die dem Menschen immer Schaden zufügte.

Die Gute Gesellschaft kommt in unseren Sagen auch unter den Begriffen Nachtvolk, Fahrt oder Nachtschar vor. Das Auftreten  der Nachtschar, diesen Begriff erwähnte übrigens der Oberst­dorfer Chonrad Stoeckhlin im Jahre 1586 bei seinem Hexenprozess  , erinnert sehr stark an keltische Feen und Elben. Auch sie konnten ein totes Tieres wieder zum Leben erwecken, eine Vorstellung, die in die Glaubenswelt des vorchristlichen Europas gehört  . Dieses sogenannte Knochenwunder ist als ein wichtiges Grundmotiv der Nachtvolkmythen in seiner ursprünglichen Ausformung noch in der Sage „Das Nachtvolk verspeist eine Kuh“ erhalten. Es „symbolisiert in extremster Form die Gutartigkeit des Nachtvolkes: Es konnte den Menschen das beste schenken, was auf der Welt zu haben war: das Leben“  .

Die Faszination, mit der gerade diese Sage über Jahrhunderte unverändert weitererzählt wurde, verhinderte anscheinend in christlicher Zeit eine Dämonisierung. Wie in dieser Sage, so auch in allen anderen, verzauberte das Nachtvolk die Menschen mit übernatürlich schöner Musik. Manchmal traf es sich zum fröhlichen Tanz und Mahle auf Alphütten, oft war es jedoch auf einer Fahrt unterwegs. Sehr genau wurde auch der Weg beschrieben, den das Nachtvolk dabei Jahr für Jahr nahm. So gab es eine Fahrt, die durch untere Mühle  hindurch bis zur Schießstätte führte. Dass es bei dieser damals sicher allen Oberstdorfern bekannten Fahrt jedoch nicht zu einem Zuschaueransturm kam, lag daran, dass sie einerseits nur nachts unterwegs war und andererseits nur von wenigen Auserwählten, nämlich Menschen, die zur rechten Zeit geboren wurden, wahrgenommen werden konnte. Da das Nachtvolk immer ein bis drei Schuh hoch über dem Boden schwebte, war es einem erfahrenen Nachtschwärmer möglich abzutauchen, um den negativen Begleiterscheinungen zu entgehen, denn Neugierige wurden bestraft. So erblindete eine Tiefenbacherin, die das Nachtvolk durch ein Astloch beobachtete, auf diesem Auge. Als sie aber ein Jahr später wieder durch das gleiche Astloch schaute, hörte sie einen aus der Schar sagen: „Da hab ich feant ein Zäpfle eingesteckt und will's wieder mitnehmen!" . Sogleich konnte sie wieder sehen. Die Bestrafungen der Guten Gesellschaft wurde zurückgenommen und diente eher zur Warnung.

In der Neuzeit wandelte sich das ursprünglich positive Erscheinungsbild des Nachtvolkes unter dem Einfluss des Christentums immer mehr zum Teufelswerk. Dabei wurden die negativen Begleiterscheinungen immer drastischer, die „Fahrt“ zur „Wilden Fahrt“ und lebensgefährlich. So verlief sich bei Loretto unter dem Einfluss des Nachtvolkes eine Dienersbergerin  und sie fand unter Todesangst erst wieder zurück, als zum Gebet geläutet wurde. Der Marte aus Rubi ließ sich sogar mitnehmen und durfte an einem tollen Fest teilnehmen. Der zufällig ausgesprochene christliche Gruß: „Ja grüeß di Gott, Stasel! Bisch du öü do?"  ließ die Erscheinung verschwinden und brachte ihn wieder in das Diesseits zurück. Da sein sündhaftes Verhalten natürlich gesühnt werden musste, fand er sich in einem Dufenmoos wieder, aus dem er nur mit Mühe herausfand. Auf die Vermutung, dass es sich in den letzten beiden Sagen um eine geistig-seelische Disposition, z.B. einen epileptischen Anfall, handeln könnte, möchte ich hier nicht näher eingehen. Solche möglichen Hintergründe, die Sagen entstehen ließen, werde ich in einem späteren Kapitel beleuchten.

Wir sehen, dass sich die Vorstellungen von der Guten Gesellschaft und dem Wütenden Heer im Laufe der Zeit immer mehr vermischten. Trotzdem bin ich der Meinung, dass sich alle unsere Nachtvolksagen in ihrem Charakter grundlegend von der Wilden Jagd, die auch unter den Begriffen Wildes Heer, Wütendes Heer, Muetes, Muetes Heer, oder Wilde Fahrt erscheinen, unterscheiden. Das Muetes Heer hätte unseren Marte nicht nur entführt, unheilbares Siechtum und Tod wären die Folge der Begegnung gewesen. Außerdem besaß die Wilde Jagd im Gegensatz zum Nachtvolk immer eine mythische Figur als Anführer und mied stets die menschlichen Ansiedlungen. Nicht himmlische Musik, sondern schrecklicher Lärm war für das Wütende Heer kennzeichnend. Ursprüngliche Sagen zum Themenkomplex Wilde Jagd sind mir aus unserem Raum leider keine bekannt. Die richtig grausigen Muetessagen scheinen eher in einigen Toten-, Geister- und Hexensagen ihre Nachkommenschaft gefunden zu haben und werden später behandelt.

Wie kommt es aber nun, dass in einigen unserer Nachtvolksagen die Namen der Wilden Jagd auftauchten? Das Wissen um eine grundsätzliche inhaltliche Trennung der beiden Sagenkomplexe ging in der Neuzeit verloren. Dazu kam, dass im 19. und 20. Jahrhundert das Muetes von national eingestellten Historikern dem germanischen Gott Wotan zugeschlagen, im Nationalsozialismus sogar zu einer „altgerma­ni­schen Hochreligion“ wurde und somit unserer alemannischen Nachtschar den Rang ablief.

Zum Abschluss dieses Abschnittes soll die Sage „Der Hund Stane von Rubi tanzt mit dem Nachtvolk“ stehen, die eher humoristischen Charakter trägt. Die Umbildung des Nachtvolkes zum Bösen ist anscheinend zum Zeitpunkt der Entstehung der Sage überwunden und wird schalkhaft in Frage gestellt. Glaubt unser Erzähler wirklich daran, oder drückt die Ironie schon kritische Distanz zum Erzählten aus?

Die Buchraineralpe kurz nach der Jahrhundertwende
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AR