Die "Fabrik" in Oberstdorf

Allgäuer Baumwoll-Spinnerei und Weberei 1901
Allgäuer Baumwoll-Spinnerei und Weberei 1901
AR

Wirtschaftlich ist Oberstdorf heute auf Gedeih und Verderb dem Erfolg der Touristikbranche ausgeliefert. Bis auf wenige Handwerksfirmen und auch einige bäuerliche Betriebe beziehen fast alle den Großteil ihres Einkommens direkt oder indirekt von dem, was Gäste und Tagesausflügler bei uns ausgeben. Das war nicht immer so. Als der Fremdenverkehr Mitte des 19. Jahrhunderts bei uns langsam Fuß fasste, war man sich seines Siegeszuges noch nicht so sicher und wollte mit der Ansiedlung eines größeren Industriebetriebes neben der Landwirtschaft ein weiteres wirtschaftliches Standbein für Oberstdorfs Bevölkerung schaffen.
Nach dem Niedergang der Leinenweberei und des Flachsanbaus zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es neben der Käseherstellung und der Viehzucht kaum Erwerbsmöglichkeiten für die einheimische Bevölkerung. Armut und Hungersnöte waren gerade in der ersten Hälfte dieses Zentenniums an der Tagesordnung. Mit dem Beginn der Industrialisierung erhielten deutschlandweit immer mehr Bevölkerungsschichten den Zugang zu Wohlstand und Reichtum. Das Einsetzen des Tourismus ist ein für Oberstdorf erfreulicher Nebenaspekt dieser Entwicklung.
Da hätte Oberstdorf auch gerne einen kleinen Teil des industriellen Aufschwungs abbekommen. Aber was hatte unser Ort zu bieten? Auf der einen Seite natürlich Arbeitskräfte und auf der anderen natürlich reichlich Energie in Form von Wasserkraft. Dagegen sprach jedoch die schlechte Verkehrsanbindung. Nur eine einzige mit Fuhrwerken befahrbare Straße führte über Altstädten und Schöllang nach Oberstdorf. Das hielt potentielle Investoren ab. Trotz großzügigster Angebote, Baugrund und Wasserkraft umsonst, ließ sich niemand dazu zu bewegen in Oberstdorf eine Fabrik zu bauen. Mit der Eisenbahn, die ab 1888 endlich auch in Oberstdorf Halt machte, änderte sich die Situation endlich grundlegend.
Der Schweizer Industrielle Heinrich Gyr, der in Blaichach die Spinnerei und Weberei betrieb, suchte nach Erweiterungsmöglichkeiten und fand diese u.a. in Oberstdorf. Als Bauplatz für sein neues Werk wurde der Bereich nördlich des ersten Trettachkanales, an dem sich unsere Mühlen und Sägen befanden, gewählt. Die neue Fabrik sollte einen eigenen Kanal bekommen (Lageplan siehe unten). Das Einleitbauwerk befindet sich heute noch auf der Höhe des Bauhofes und bei den Schrebergärten am Friedhof fließt das Kanalwasser wieder zurück in die Trettach. 1893 wurde mit dem Bau der Wasserkraftanlage, der Weberei selbst und den notwendigen Nebengebäuden (Wohngebäude, Speisesaal usw.) gleichzeitig begonnen (Lageplan siehe unten). Als Zufahrt aus dem Ort wurde extra die Fabrikstraße erstellt. Schon im Jahr darauf ging der neue Komplex in Betrieb. Rund 150 Personen fanden Arbeit, darunter auch viele Oberstdorfer. Trotzdem mussten zusätzlich, insbesondere bei den Fachkräften, Auswärtige angeworben werden. Für diese wurden 1900 in der Fabrikstraße zwei größere Arbeiterwohnhäuser aus roten Backsteinen errichtet. Natürlich brachten die Fabrikarbeiter neue Steuer- und Kaufkraft in den Ort und sie waren dazu kranken- und invalidenversichert. Damit bestand für die neue Heimatgemeinde keine Gefahr, dass sie im Notfall im Rahmen der „Armenpflege“ für ihre Neubürger aufkommen mussten.
Der Niedergang der Textilindustrie wenige Jahre nach dem 2. Weltkrieg führte bald zu einer Schließung der „Allgäuer Baumwollspinnerei Blaichach“ einschließlich seines Satelliten im obersten Dorf. 1960 wurde die „Robert Bosch GmbH“ der neue Besitzer des Areals und diese verkaufte das gesamte Fabrikgelände schließlich an die Marktgemeinde Oberstdorf und das Sozialwirtschaftswerk. Bis auf die Wasserkraftanlage, sie wird vom E-Werk weiterbetrieben, dem Pförtnerhaus (Färberstr. 2) und der Kantine (Färberstr. 4), sie beherbergt heute das Sängerheim, wurden alle Gebäude in den 60er-Jahren abgerissen. 1977 eröffnete die Gemeinde auf dem Gelände den neuen Kindergarten St. Nikolaus, der provisorisch 1974 zuerst in der alten Kantine der Fabrik untergekommen war. Die Wohnhäuser (Trettachstr. 22 und 24) blieben noch lange im Ortsbild erhalten und wurden erst nach 2005 durch Appartementhäuser ersetzt.
Die Weberei war übrigens nicht die einzige industrielle Ansiedlung, die Oberstdorf zu bieten hatte. So betrieb die Familie Gschwender ab 1879 in der „unteren Mühle“ eine Eiskastenfabrikation, die sich trotz einer Prämierung bei der Industrieausstellung 1882, anscheinend nicht rentierte. Nach dem 2. Weltkrieg errichtete die Firma Abig, sie stellte Öl- und Gasbrenner her, eine Produktionsstätte in der Walserstraße gegenüber dem Autohaus Hartmann. Der Firmeninhaber Cary Gross war jedoch ein Hubschrauberfan, später erbaute er sogar ein eigenes Hubschraubermuseum in Überlingen am Bodensee, und bestand darauf im Norden von Oberstdorf einen eigenen Hubschrauberlandeplatz zu bekommen. Als die Gemeinde aus verständlichen Gründen nicht darauf einging, zog er sich aus Oberstdorf zurück und in das Gebäude zog die Coop-Handelskette. Heute befindet sich darin der REWE-Markt.

Lageplan der Fabrik 1893
Lageplan der Fabrik 1893
AR
Ortsansicht Oberstdorfs mit der Fabrik um 1936
Ortsansicht Oberstdorfs mit der Fabrik um 1936
Archiv Heimatmuseum Oberstdorf
Die Fabrik kurz vor dem Abbruch 1960
Die Fabrik kurz vor dem Abbruch 1960
AR