Kleine Oberstdorfer Sagenkunde

Der Allgäuer Hauptkamm mit Trettach, Mädelegabel und Hochfrottspitze
Der Allgäuer Hauptkamm mit Trettach, Mädelegabel und Hochfrottspitze
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Einführung in den Themenkomplex

Bei der 500-Jahr-Feier zur Markterhebung der Gemeinde Oberstdorf im Jahre 1995 wurde deutlich, dass sich das geschichtliche Interesse in der letzten Zeit deutlich wandelte. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die Großen unseres Reiches, wie Kaiser Maximilian I, sondern die Frage nach den Lebensbedingungen und der Gedankenwelt des einfachen Volkes. Doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Die Archäologie kann uns nicht weiterhelfen, da von den Häusern aus Holz oder den Gebrauchsartikeln aus Naturmaterialien kaum etwas übriggeblieben ist. Künstlerische Werkstücke des einfachen Volkes sind bis auf Ausnahmen nicht erhalten. Schriftliche Nachweise existieren meist nur aus rechtlichen und wirtschaftlichen Gründen und erzählen nur auf Umwegen etwas über das Leben unserer Vorfahren.

Da unsere Bauern und Handwerker meist nicht schreiben und lesen konnten, gaben sie ihre Geschichten von Generationen zu Generation mündlich weiter. Zu diesem Erzählgut gehören neben den Märchen und Legenden auch die Volkssagen. Über viele Jahrhunderte hinweg wurden sie als eine Art bäuerliche Geschichtsdeutung und Geschichtsschreibung weitererzählt, wobei der einfache Mensch, sein Leben, seine Hoffnungen, seine Träume und sein meist tragisches Schicksal im Mittelpunkt standen. Die edlen Herren fanden kaum eine Erwähnung. Ihr Leben interessierte unsere Allgäuer selten, im Gegenteil, die Helden des Mittelalters tauchten eher als Tyrannen und Zwingherren auf, die die Bauern sogar noch als Geister plagten. Unsere Vorfahren glaubten wirklich an das, was sie hörten oder gar selbst erzählten. Diese Geschichten entsprechen ihrer subjektiven Wahrheit, was natürlich für uns rational denkende Menschen kaum zu verstehen ist. Im Folgenden werde ich versuchen, mit Hilfe dieser Sagen einen Zugang zur Gedankenwelt unserer Vorfahren zu finden. Natürlich bin ich kein Geschichts- und auch kein Literaturwissenschaftler und muss mich deshalb bei meinen Untersuchungen auf Sekundärliteratur berufen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Geschichten stetig verändert und dem jeweiligen Zeitgeist angepaßt. Eine Festschreibung fanden sie erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als im Zuge der Romantik die ersten Sagensammlungen zusammengestellt wurden. Damals wurde auch der Begriff "Sage" (= etwas, das gesagt wurde) als Bezeichnung für eine Gattung der Volkserzählung durch die Brüder Grimm in seiner heutigen Bedeutung geprägt.

Die meisten Sagen unserer Gegend wurden von Karl Reiser, einem gebürtigen Kornauer, in seinem zweibändigen Werk "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" veröffentlicht.

Er durchwanderte in den Jahren 1886 bis 1898 das Allgäu und schrieb auf, was ihm die alten Leute erzählten. Alle anderen, von mir in weiteren Büchern gefundenen Sagen waren aus seiner Sammlung abgeschrieben worden. Erst Hermann Endrös und Alfred Weitnauer erweiterten in ihrem Buch "Allgäuer Sagen" den Sagenschatz unseres Ortes. Eine weitere wichtige Quelle ist die Vorarlberger Sammlung „Im Sagenwald“ von Richard Beitl . Gerade die Einflüsse unserer alemannischer Nachbarn aus Österreich und der Schweiz haben die Sagenvorstellungen unserer Vorfahren stärker geprägt als die des schwäbischen Unterlandes.

Oberstdorfer Sagen: Das Venedigermännle reitet einen Drachen
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Brigitte Rößle