Die Fahrt durch die untere Mühle
Auch in Oberstdorf wurde früher von einer "Fahrt" erzählt. Sie soll ihren Weg mitten durch die untere Mühle genommen haben. Deswegen hat es sich nie gelohnte, ein Schopftor einzubauen. Hatte man nämlich ein solches angebracht, schon wurde es in kurzer Zeit wieder herausgerissen. Deswegen ließ man den Schopf künftig einfach offen. Man erzählte sich, dass einer unter dem Nachtvolk früher in der Mühle angestellt war. Er habe aus Nachlässigkeit oft das Schopftor offen gelassen. Deshalb würde die Fahrt diesen Weg nehmen und dabei gleich auch immer das Tor wegreißen, wenn es im Weg sei.
Die Fahrt könne aber nur sehen, wenn er an einem ganz besonderen Tag geboren worden sei.
Vor Jahren arbeitete einmal ein "Rechtgeborener" eine Zeitlang in der Mühle und hatte seinen Schlafplatz auf der Baohne*. Eines Tages hörte er mitten in der Nacht eine herrliche Musik. Natürlich stand er wündergeal* auf und spitzte durch eine Klumse* hinaus auf den Gang. Da erblickte er einen Umzug mit wunderschön bekleideten Menschen. Die kostbaren Gewändern waren mit Gold bestickt und jeder besaß teuren Schmuck. Als er genauer schaute, sah er, dass sie über den Boden dahinschwebten. Total fasziniert blickte er diesem seltsamen Umzug nach. Als dieser jedoch in der nahen Gasse verschwunden war, bekam der junge Mann es mit der Angst zu tun. Er schrie laut auf und weigerte sich künftig an der zugewiesenen Stelle zu schlafen. Außer ihm hatte jedoch niemand etwas gemerkt oder gesehen. Nach dem die Fahrt die Mühle durchzogen hatte, ging es normaler Weise die Gasse hinunter der Schießstätte zu.
Einmal war nun wieder ein Oberstdorfer nachts in der Gasse auf dem Nachhauseweg. Da vernahm er die schöne Musik. Natürlich war ihm sofort klar, dass dies die Fahrt sein müsse. Er legte sich sofort hin, um sie über sich hinwegziehen zu lassen. Dabei hatte er sich jedoch ein bisschen verrechnet und sein Rücken überragte die Mindesthöhe von drei Schuh ein wenig. Auf der Stelle bekam er starke Rückenschmerzen, gegen die ihm keine Arzt helfen konnte. Der Pfarrer riet ihm, dass er sich doch im nächsten Jahr zur gleichen Stunde wieder an die Stelle auf den Boden legen solle. Er meinte, so könnte er vielleicht von seiner Qual befreit werden. Natürlich nahm unser Oberstdorfder diesen Rat gerne an. Als die Fahrt nun wieder mit herrlicher Musik über ihn hinwegzog, hörte er jemanden rufen: "Halt! An der Stelle hab ich doch letztes Jahr mein kleines Beil eingeschlagen. Ich will es heute wieder mitnehmen!" Im selben Moment hatte er das Gefühl, als würde ihm etwas aus seinem Rücken gezogen. Der ganze Schmerz war wie verflogen und ihm ging es wieder so gut wie vorher.
Andere Oberstdorfer hatten beobachtet, dass das Nachtvolk baumlange Alphörner mit sich führte. Sie würden damit jedoch keine Musik sondern nur rasselnden Lärm machen.
* Anmerkungen:
Baohne: Tenne
wündergeal: neugierig
Klumse: Spalt oder Riss