Der Venedigerspiegel
Ein Oberstdorfer, der auf dem Weg zur Dietersbacher Alp war, fand hinter Gerstruben einen ganz besonderen Spiegel. Mit ihm konnte er an der weit entfernten Höfats deutlich ein Männchen erkennen, das zwischen goldenen und silbernen Tannenzapfen herumkletterte, diese abbrach und in einen Sack steckte. Als dieses entdeckte, dass der Oberstdorfer es durch seine "Fernglas" beobachtet, rief es ihm zu, dass er das Glas weglegen solle, sonst müsse es abstürzen. Aber erst als es versprach ihn reich zu machen, befolgte er den Wunsch. Im selben Moment stand dann auch schon das Männchen vor ihm und erklärte ihm, dass ihm der Spiegel nur Unglück bringen würde. Nun erzählte der Kleine, dass er ein Venediger sei. Ihnen würden alle Gold- und Silberschätze der Alpen gehören. Man müsse sie aber in Ruhe lassen und sie nicht stören. Wenn man ihnen jedoch in einer Not helfe würde, erwiesen sie sich als dankbar. Da nahm das Männdle einen goldenen Tannenzapfen heraus und schenkte ihn dem Oberstdorfer. Im gleichen Moment war es verschwunden.
Glücklich rannte der Bauer heim und erzählte allen von seinem Erlebnis. Als er jedoch seinen Goldzapfen auspacken wollte, war es nur eine Rossbollen. Das brachte ihm natürlich nur Hohn und Spott ein und keiner wollte mehr diesem Narren Geld leihen. Bald schon kam sein kleiner Hof auf die Gant und er musste mit seiner Familie ins Armenhaus.
Aber er kann noch immer nicht glauben, dass ihn das Männlein so betrogen haben sollte. Da er sich jedoch nicht mit dieser Niederlage abfinden konnte, machte er sich auf den Weg über die Berge nach Venedig. Dort fand er ziemlich schnell das Männdle. Er beschimpfte ihn auf Allgäuerisch, nennt den Venediger einen elenden Spitzbuben und Schwindler, der ihn betrogen und nannte ihn einen gemeinen Lügner. Obwohl er ihm das Leben gerettet hätte, habe er ihn betrogen und er sei Schuld, dass er auf Gant gekommen sei. Da musste das Männdle furchtbar lachen und ihm rutschte die Kapuze vom Kopf. Da sah der Oberstdorfer, dass er uralt sein musste, denn war total ergraut und hatte dazu noch viele Zahnlücken. Da nahm ihn das alte Männlein mit in einen der Paläste. Plötzlich standen sie in einem wunderschönen Saal, in dem hunderte von Kapuzenmännlein auf sie warteten. Jetzt erst merkte der Bauer, dass sein Venedigermänndle der Venedigerkönig höchst persönlich war. Nachdem der König der Versammlung die Geschichte an der Höfats erzählt hatte, belohnte er den Oberstdorfer mit Gold. Skeptisch meinte er jedoch traurig: "Lüeget her! Hintanocha isch es a Rossbolle gsi!" Aber was da in die Hand bekam war wirklich eine Goldkugel. Der arme Mann rief vor Freude: "Annele, Annele, wenn de nu do wäresch!" Da war der Venedigerkönig so gerührt, dass er ihn durch einen riesigen Venedigerspiegel an der Wand schauen ließ. Da erblickte er die Stube im Armenhaus, indem sein Weib gerade das Brot aus dem Bettelsack an die Kinder verteilte. Da rief er traurig, dass er jetzt heim müsse. Als er zur Türe hinaus wollte, zeigten die Venediger ihm jedoch einen heimlichen Gang, durch den in einer halbe Stunde zu haue wäre. Danach stecken sie ihm noch schnell etwas in die Taschen. Er rannte los und stand schon bald am Fuße der Höfats. Schnell lief er weiter zu Weib und Kindern. Dieses Mal blieb das Gold Gold und die Not der Familie hatte endlich ein Ende. (nacherzählt von A. Rößle)