Das Nachtvolk verspeist eine Kuh
In einer Sennalpe "hinter Oberstdorf" war, nachdem man im Herbst mit den Milchkühen abgezogen war, war ein Untersenn noch mit dem Galt- und Jungvieh zur Nachweide zurückgeblieben. Wie er nun einmal des Nachts so allein in der Hütte war und sich schon auf der Bugrat* schlafen gelegt hatte, wurde von außen das Tor aufgemacht, und es kam ein ganz besonderes Volk herein. Die wunderlichen Leute machten sich gleich heimisch in der Hütte, zündeten in der Herdgrube ein Feuer an, gingen zur Tür aus und ein, holten endlich eine Kuh vom Stall herein und machten alle Anstalten, sie zu schlachten. Sie zogen ihr die Haut herab, zerstückelten das Fleisch, stellten den Kessel über das Feuer und fingen nun an, zu kochen und zu braten. Dann hielten sie eine reichliche Mahlzeit und aßen und tranken nach Herzenslust. Zuletzt holten sie auch den Hirten von seiner Britsche* herab, und nun mußte er auch mittun. Sie setzten ihm ein schönes Stück Braten vor, das er aß, und das ihm auch ganz gut schmeckte. Darauf fingen sie an, zu musizieren, zu geigen und zu pfeifen, und tanzten dazu wie toll. So dauerte es bis zur frühen Dämmerstunde; dann aber packten sie alles auf einmal zusammen und verschwanden. Der Hirte aber wußte kaum, wie ihm war, und fand nun alles in der Hütte wieder in Ordnung. Fast hätte er glauben können, es hätte ihm dies alles nur geträumt, wenn er nicht im Stalle eine merkwürdige Wahrnehmung gemacht hätte. Die geschlachtete Kuh stand zwar frisch und munter da, aber am Schenkel fehlte ein Stück Fleisch, genau von der Größe und Form, wie das Stück Braten gewesen war, das er in der Nacht gegessen hatte. Darüber her aber war die Haut gezogen, und nun war ihm gewiß, daß das Ganze kein Traum gewesen, ebenso aber, daß dies alles nicht mit natürlichen Dingen hergegangen war.
* Anmerkungen:
Bugrat: primitive Schlafstätte für einen oder mehrere Menschen auf Berghütten (Wechs)
Britsche: eine primitive Liegestätte (Zwerch)