Der Trudeser findet ein Zauberbüchlein

Oberstdorf Anatswald - Aussicht nach Süden
Oberstdorf Anatswald - Aussicht nach Süden

Eine der vielen Geschichten, die sich die Leute einst von aufgefundenen Zauberbüchern erzählten, hat Reiser von der Ebnat im Birgsauertal bei Oberstdorf erfahren. Der alte Trudeser sah einmal im Riedwald auf einem Tannenstock ein altes Büchlein liegen. Der Bauer, neugierig, was das wohl sein könne, begann im Weitergehen, darin zu blättern und zu lesen. Aber er verstand von dem, was er da las, kein Wort. Die Sprache war ihm fremd. Wie nun der Trudeser buchstabierend weitergeht, merkt er mit einem Mal, dass sich die Tannenwipfel neigen und dass die Bäume ächzen und rauschen wie im ärgsten Sturm, und dies alles, obwohl sich nicht das leiseste Lüftchen regt. Als der Trudeser mit dem Kapitel zu Ende ist, steht da in lesbaren Worten, man müsse jetzt den ganzen Abschnitt rückwärts lesen. Der Trudeser tut's, und der Wald wird wieder ruhig.

Solche Zauberbüchlein sind im Allgäu gern eine Voraussetzung für eine sich anbahnende Verbindung mit dem Teufel. Er legt sie denen, die er gewinnen will, in den Weg, und wenn man auch zuerst dabei ein wenig Grausen empfindet, schließlich findet man doch Gefallen an solcher Zauberei. Mit der Zeit lernen diese Teufelsanwärter, wie sie ihren Meister mit Hilfe des Büchleins herbeirufen können, und dieser bringt sie zum Schluss dahin, dass sie einen Pakt mit ihm abschließen.

Von unserem Trudeser ist nicht gesagt, dass er mit dem Teufel paktiert hätte. Jedoch konnte er ihn mit seinem Zauberbüchlein jederzeit herbeizitieren, konnte ihm Aufgaben stellen und mit ihm reden. Der Böse hatte in solchen Fällen stets ein grünes Jägergewand an und kam auf Bocksfüßen daher.

Wer den ersten Abschnitt eines solchen Zauberbüchleins in einem geschlossenen Raum liest, der kann erleben, dass Teller und Kannen auf dem Schüsselrahmen zu tanzen anheben; aber sie kommen alsbald wieder zur Ruhe, wenn das Kapitel rückwärts gelesen wird.

Wer durch ein Zauberbüchlein zu des Teufels Kundschaft gekommen ist, der wird von ihm mit allem versorgt, was sich andere Menschen durch ihrer Hände Arbeit erringen müssen. In dunkler Nacht fährt der Teufel meist durch den Kamin ins Haus seines Klienten und bringt ihm Speise, Kleider und Geld.

Der Trudeser von der Ebnat war einer von denen, die lebten und leben ließen. Wenn ihm der Teufel Küche und Keller, Lade und Kasten gefüllt hatte, dann ließ er alle andern Leute mitgenießen, soviel sie wollten. Das ging, so lange er sein Geheimnis wahren konnte. Aber der gute Trudeser war ein "Bepperer" und musste schwätzen. Und so war es bald bekannt, woher der Bauer auf der Ebnat all die guten Sachen bekam.

Natürlich gab es ein paar Burschen, die unbedingt sehen wollten, wie das zuging. Sie legten sich des Nachts hinter des Trudesers Haus auf die Lauer. Als nun der Teufel in Gestalt eines Feuerdrachens kam und durch den Kamin ins Haus fuhr, stiegen die Burschen auf das Landerndach und schauten durch den Rauchfang, weil es geheißen hatte, dass der Teufel seine Gaben auf der Feuerstelle ablade. Aber da fuhr der Drache auch schon wieder heraus und verbreitete dabei eine so höllische Hitze, dass die Neugierigen hinterrücks vom Dach purzelten.

Es war des Teufels letzte Besorgung beim Trudeser gewesen. Bald darauf kam's mit dem Bauern zum Sterben. Vor seinem Tod hat er noch den Pfarrer gebeten, das Teufelsbüchlein zu verbrennen und die Asche auf "sieben Wege" zu verstreuen. Das war nämlich nach altem Allgäuer Volksglauben die einzige Möglichkeit, um einen unrechten Gegenstand ganz und gar zu vernichten und seinen Zauber zu tilgen. Erst als das geschehen war, konnte der Trudeser sterben.

Nach einer anderen Lesart sind am gleichen Tag auch die drei Burschen, die den Teufel gesehen hatten, begraben worden.

Oberstdorfer Sagen: Der Drudesar findet ein Zauberbuch
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Brigitte Rößle